Bundesarbeitsgericht entscheidet: Arbeitgeber müssen sich auf Bescheid verlassen können
Schwerbehindert bzw. Gleichgestellt – oder nicht? Diese Frage spielt beim Thema Kündigungsschutz eine ganz entscheidende Rolle. Nun kommt ein neues Urteil des Bundesarbeitsgerichts hinzu. Es beweist einmal mehr, wie sehr der Teufel im Detail steckt. Doch der Reihe nach.
Der Fall
Ein Arbeitnehmer war bei einem Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt. Er wurde als Hausmeister bei dem entleihenden Betrieb, einer Kommune, eingesetzt. Als der Arbeitnehmer einen Schlaganfall erlitt und für längere Zeit ausfiel, kündigte der Entleiher den Vertrag mit dem Zeitarbeitsunternehmen. Das wiederum kündigte daraufhin den Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer. Dieser erhob Kündigungsschutzklage, die Sache endete mit einem Vergleich.
Doch damit ist der Fall noch nicht zu Ende. Zum Zeitpunkt der Kündigung lag der Arbeitnehmer mit einer halbseitigen Lähmung im Krankenhaus. Für ihn war damit klar: Zum Zeitpunkt der Kündigung war er offensichtlich schwerbehindert. Damit hätte der Arbeitgeber nicht ohne Zustimmung des Integrationsamtes kündigen dürfen. Es läge offensichtlich eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung vor.
Der Arbeitgeber forderte eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Dort heißt es: „Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen.“
Zum Zeitpunkt der Kündigung war der Arbeitnehmer weder als schwerbehindert anerkannt, noch war er einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Auch einen entsprechenden Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft oder einer Gleichstellung hatte er nicht gestellt.
Der Arbeitgeber muss nicht zahlen
Grundsätzlich kann die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers oder einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin ohne Beteiligung des Integrationsamtes auf eine mögliche unmittelbare Benachteiligung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen hinweisen. In diesem Fall ist es dann die Pflicht des Arbeitgebers, das Gegenteil zu beweisen.
Im vorliegenden Fall liegt die Sache allerdings anders: Der Arbeitnehmer galt als nicht schwerbehindert. Er war auch nicht einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Eine Prognose aber, ob eine Schwerbehinderung dauerhaft vorliegt, muss der Arbeitgeber bei der Kündigung nicht anstellen.
Das Gericht entschied deshalb, dass der Arbeitgeber im vorliegenden keine Entschädigung zahlen muss. Es ist bei einem Schlaganfall nicht ungewöhnlich, dass Betroffene (vorübergehend) Lähmungserscheinungen zeigen. Ob diese dauerhaft sind oder nicht, zeigt sich erst im weiteren Verlauf der Behandlung oder möglicherweise bei der nachfolgenden Reha (BAG, Urteil vom 2. Juni 2022, Az. 8 AZR 191/21).
So traurig es auch ist. In der Konsequenz bedeutet das Urteil des Bundesarbeitsgerichts:
Je schneller Ihr Arbeitgeber jemanden nach einem Herzinfarkt, Unfall oder Schlaganfall kündigt – umso besser für ihn.
Allein aus dem Ereignis und einem Krankenhausaufenthalt lässt sich noch keine offenkundige Schwerbehinderung (s.u.) ableiten. Es sei denn, die Verletzung ist so schwer (z.B. abgerissene Gliedmaßen), dass ganz offensichtlich ist, dass die oder der Betroffene ab sofort dauerhaft schwerbehindert ist. Dann wären bei der Kündigung auch Sie als Schwerbehindertenvertretung und das Integrationsamt zu beteiligen.
Die 3 Kriterien, die bei einer Kündigung eine Beteiligung des Integrationsamtes und Ihre als Schwerbehindertenvertretung erforderlich machen
- Menschen, die als schwerbehindert anerkannt sind (Grad der Behinderung – GdB – von mindestens 50)
- Beschäftigte, deren Behinderung offensichtlich ist (z. B. Rollstuhlfahrer oder Blinde), auch wenn sie (noch) nicht anerkannt wurden
- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem GdB von 30, aber weniger als 50, die von der Agentur für Arbeit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt
Im entschiedenen Fall beruft sich der Arbeitnehmer darauf, dass er zum Zeitpunkt der Kündigung „offensichtlich“ schwerbehindert war. Doch das konnte hier nicht der Punkt sein, da eine halbseitige Lähmung nach einem Schlaganfall nicht ungewöhnlich ist – und keinesfalls von Dauer sein muss.
Empfehlung für Sie als Schwerbehindertenvertretung
Schauen bzw. hören Sie sich während einer Kündigungsanhörung in ähnlichen Fällen sehr genau die Umstände des Falls an. Und eine Kündigung nur deshalb, weil jemand einen Schlaganfall erlitten hat? Das heißt „Nein“ zur Kündigung.
Dauert die Genesung länger, und die oder der Betroffene fällt länger aus, stellt das allein noch keinen Kündigungsgrund dar. Das gilt vor allem in Betrieben mit mehr als 10 Beschäftigten, also solchen, die dem Kündigungsschutzgesetz unterliegen.
Wichtig
Es geht hier um Beschäftigte, die noch nicht offiziell als schwerbehinderte Personen anerkannt oder ihnen gleichgestellt wurden.
Tipp
Sprechen Sie sich mit Ihrem Persona- oder Betriebsrat ab und einigen Sie sich auf einen Austausch zu allen Kündigungen, damit mögliche Fälle, in die Sie z. b. nicht involviert wurden, nicht übersehen werden können.
Sie als SBV sind anzuhören!
Ihr Arbeitgeber muss Sie als Schwerbehindertenvertretung auch dann zwingend zur beabsichtigten Kündigung anhören, wenn der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin noch gar keinen Sonderkündigungsschutz genießt, etwa weil das Arbeitsverhältnis noch keine 6 Monate besteht. Unterlässt Ihr Arbeitgeber diese Anhörung, ist die Kündigung per se unwirksam (§ 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX)!
Das ist noch wichtig mit Blick auf den Sonderkündigungsschutz
Der Sonderkündigungsschutz besteht unabhängig davon, ob Ihr Arbeitgeber von der Schwerbehinderung wusste. Darauf hatte der Arbeitnehmer im entschiedenen Fall gesetzt. Ohne Erfolg. Der Sonderkündigungsschutz findet keine Anwendung, wenn die Schwerbehinderung zum Zeitpunkt der Kündigung weder offensichtlich noch durch Bescheid anerkannt und nicht mindestens 3 Wochen vor der Kündigung die Anerkennung bzw. Gleichstellung beantragt worden ist.
Außerdem kann Ihr Arbeitgeber ohne Zustimmung des Integrationsamts kündigen, wenn bei Zugang der Kündigung — das Arbeitsverhältnis noch keine 6 Monate besteht oder der Schwerbehinderte das 58. Lebensjahr vollendet, einen Anspruch auf Abfindung oder Entschädigung auf Grund eines Sozialplans und der Kündigungsabsicht Ihres Arbeitgebers nicht widersprochen hat (§ 173 Abs. 1 SGB IX).
Näheres zum Thema Kündigung und Schwerbehinderung finden Sie hier.
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